Shibo

Fakten auf den Tisch: Meine Herzklappe ist nicht dicht.

Shibo ist Leiterin Community auf der Libero-Geschäftsstelle. Und gehört zur Risikogruppe. Aus dem Home Office erzählt sie von ihrem Corona-Alltag, erklärt, was das mit Musik zu tun hat - und wirft einen Blick auf das, was gerade wichtig ist.

Fakten auf den Tisch: Meine Herzklappe ist nicht dicht. Sie pumpt nicht alles mit Sauerstoff angereicherte Blut in die Organe. Ich habe eine Angina nicht behandelt und deshalb eine Autoimmunerkrankung entwickelt, bei welcher Bakterien das Herz angreifen. Das Resultat: Eine undichte Herzklappe. Jetzt das Gute: Die Autoimmunerkrankung ist inzwischen auskuriert und Symptome konnte ich noch keine feststellen. Soweit so gut.

Als der erste Fall von Covid-19 in der Schweiz bestätigt wurde, weilte ich gerade für eine Hochzeit von Freunden in Brasilien. Am selben Tag verzeichnete auch Brasilien seinen ersten Fall. Wir dachten uns nicht viel dabei, feierten die standesamtliche Hochzeit an einem traditionellen Bloco (brasilianischer Karnevalsumzug) und verkleideten uns passend zum Thema “The Royal Wedding”. Wir hatten Spass.

Kurz darauf entschied der Bundesrat, Veranstaltungen mit mehr als 1000 Menschen zu verbieten, später sogar alle öffentlichen Events. Wow, ein Schock. Man muss wissen: Bis Ende 2019 hatte ich nie einen anderen Job (ausser im Kernkraftwerk Gösgen, no joke) als Events zu veranstalten. In den letzten 15 Jahren habe ich in einem Kulturhaus und im grössten Club der Schweiz gearbeitet, Touren durch Europa organisiert und das Booking eines grossen Festivals gemacht. Die Entscheidung traf mich mitten im Herz. Ebenso ein Grossteil meiner Freunde.

Am Samstag vor dem Lockdown las ich einen Tagi-Artikel zu Covid-19. Darin stand, dass Menschen mit einer Vorerkrankung am Herzen zur Risikogruppe zählen. Ich, Risikogruppe? Ich brauchte einen Moment, um dies zu begreifen. Ich lief ins Wohnzimmer, öffnete meine Vintage Kommode und stöberte durch meine Plattensammlung. Ich entschied mich für “Bonobo - Days To Come”. Denn trotz Berufswechsel von der Musik hin zur Politik sind wir immer noch ein unzertrennliches Paar, die Musik und ich.

Seither habe ich keine Freunde mehr getroffen, höre und sehe meine Libero-Gspändli nur noch online, habe ein Bio-Gemüse-Abo gelöst und decke mich mit DIY-Projekten zu.

Nachdem sich der erste Schock legte, geschah etwas Wunderbares. Die Musikbranche und insbesondere die Künstler*innen brachten die Musik über die digitale Welt zu ihren Fans nach Hause. Sie streamten unzählige Konzerte, DJ-Sets, Podiumsdiskussionen und Q&As oder bauten kurzerhand den gesamten Club 1:1 im Online-Game Second Life nach, damit man digital miteinander tanzen und sprechen kann. Wäre sowas ohne Corona entstanden? Ich bezweifle es. Die Musikbranche gibt so der Gesellschaft ein Stück Lebensfreude zurück. Als Geschenk. Als Zeichen der Solidarität.

Generell ist die Solidarität in Zeiten von Corona gross und grossartig. All die Initiativen, Plattformen und Hilfsangebote, die von verschiedensten Menschen innert kürzester Zeit aus dem Boden gestampft wurden. Fürs Gemeinwohl und für die Zukunft. Ich bin stolz darauf, in einem Land zu wohnen, in dem sich so viele Menschen aktiv engagieren und helfen, diese Krise zu bewältigen. 

Hie und da sehe ich aber auch andere Meinungen. Warum man sich denn gerade jetzt um die Flüchtlinge in Griechenland kümmern solle; dass man so schnell wie möglich wieder die Geschäfte öffnen sollte; und sowieso, Ungarn sei nun wirklich nicht unser Problem. Für mich ist dies zu kurz gedacht.

Was ist, wenn es nach der Lockerung des Lockdowns dein Grosi oder deinen Papi trifft? Und warum sind die Menschen in Flüchtlingslagern weniger wert als der eigene Nachbar? Zudem: Den Flüchtlingen in Griechenland hätte man schon vorher helfen sollen, die aktuellen Umstände machen die Lage nur noch prekärer. Über 20’000 Menschen auf engstem Raum ohne Grundversorgung. Das ist unmenschlich. 

Nur weil man selber gerade durch eine Krise geht, darf man die Menschlichkeit und Solidarität zu anderen Menschen nicht vergessen. Grenzüberschreitend. Ethische Werte zählen in Zeiten von Krisen und Hochs. Das macht uns aus. 

Shibo Tschäppeler ist Community Leiterin bei Operation Libero, leidenschaftlicher Musik Nerd, zählt zur Risikogruppe und beobachtet die aktuelle Lage aus der Perspektive der Musikbranche.