Die Schweiz schliesst derzeit rund einen Viertel der ständigen Wohnbevölkerung vom politischen Entscheidprozess und von gleichen politischen Rechten aus. Das ist aus liberaler Sicht unhaltbar. Ein liberales Bürger*innenrecht ist nicht Lebensformkontrolle, sondern Demokratiepflege.
Wer gilt als vollwertiges Mitglied unserer Gesellschaft und wer nicht? Wem gestehen wir eine politische Stimme zu und wem nicht? Die Antworten zu diesen Fragen sind zentral für die Pflege unserer gemeinsamen Institutionen und unserer Demokratie. Doch die Erzählung, wer wir zu sein glauben, und die Realität, wer wir geworden sind, geraten immer öfter in Konflikt miteinander: Die Vorstellung des Bürger*innenrechts als Hochwohlgeborenheit, als Privileg, das einem obrigkeitlich und nach langer Gesinnungs- und Lebensformkontrolle gnadenhalber zugeteilt wird, ist zu einer ernsthaften Hypothek für die Demokratie geworden. Und zur systematischen Erniedrigung von Nichtbürger*innen: Die Schweiz schliesst derzeit rund einen Viertel der ständigen Wohnbevölkerung vom politischen Entscheidprozess und von gleichen politischen Rechten aus. Das ist sowohl im internationalen Vergleich als auch mit dem Anspruch, eine Vorzeigedemokratie zu sein, unhaltbar.
Es ist daher höchste Zeit für eine grundlegende Debatte über das “Wir” und für grundlegende Reformen im Bürger*innenrecht. Wir brauchen einen Paradigmenwechsel: Individuelle Rechte für alle, die in der Schweiz leben, müssen an die Stelle von gnadenhalber erteilter Privilegien treten. Ein liberales, demokratisches “Wir”, das allen gleiche Rechte zugesteht, soll an die Stelle des statischen, exklusiven und auf Abstammung basierenden “Wir” treten, das momentan das Schweizer Bürger*innenrecht bestimmt und die Schweizer Demokratie unterhöhlt. Wenn wir uns für die liberale Demokratie stark machen, dann auch dafür, alle als Freie und Gleiche anzuerkennen, und das geschieht letztlich einzig über das Bürger*innenrecht.