wecker sexualstrafrecht aktion

Sexualstrafrecht: Kuhhandel auf Kosten der sexuellen Selbstbestimmung

Medienmitteilung

Der heutige Entscheid des Nationalrates hinsichtlich der Revision des Sexualstrafrecht ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber ungenügend, um ein umfassendes institutionelles Umdenken zu erreichen. Trotz Fortschritten im Vergleich zur aktuellen Rechtslage: “Nur Ja heisst Ja” ist und bleibt die beste Lösung, um das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung zu schützen. Operation Libero fordert daher weitere Massnahmen, um sexualisierte Gewalt effektiv zu bekämpfen und den Grundsatz “Sexuelle Handlungen nur mit Zustimmung” in den Köpfen zu verankern.

Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ist nicht verhandelbar. Dennoch hat sich der Nationalrat heute genau auf eine solche Verhandlung eingelassen. Nachdem sich der Nationalrat im Winter noch für die “Nur Ja heisst Ja”-Lösung ausgesprochen hatte, hat er heute dem Kompromiss des Ständerats zugestimmt (siehe Infobox unten). Trotz der überfälligen geschlechtsneutralen Definition und des Wegfalls des Nötigungselements beim Vergewaltigungstatbestand: Im Grundsatz fokussiert die heute beschlossene Ablehnungsvariante noch immer auf die Handlungen der Betroffenen statt auf diejenigen der Tatpersonen. “Der Nationalrat geht mit seinem Entscheid einen Kuhhandel auf Kosten des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung ein, trotz einiger Verbesserungen”, sagt Eve Binggeli, Co-Leiterin Sexualstrafrecht bei Operation Libero zum heutigen Entscheid.

Auch nach dem heutigen Entscheid ist das Thema der sexualisierten Gewalt und der sexuellen Selbstbestimmung noch lange nicht vom Tisch. Einerseits wird sich erst in der Gerichtspraxis eindeutig beurteilen lassen, wie der neu aufgenommene “Schockzustand” ausgelegt wird. Um das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung bestmöglich zu schützen, fordert Operation Libero diesbezüglich eine breite Auslegung des Begriffs. Andererseits sind weitere Massnahmen zur Bekämpfung sexualisierter Gewalt erforderlich. So fordert Operation Libero:

  • Sensibilisierung für “Nur Ja heisst Ja”: Der Zustimmungslösung standen gemäss Debatte im Parlament hauptsächlich juristische Bedenken im Weg. Daher fordert Operation Libero den Bund auf mit einer gross angelegten Sensibilisierungskampagne der Bevölkerung nun unmissverständlich zu signalisieren, dass sexuelle Handlungen im Grundsatz immer auf der Zustimmung aller daran Beteiligten beruhen sollen. Dies wäre ein bedeutendes Signal der offiziellen Schweiz an die Bevölkerung.
  • Ausbildungsoffensive in Justiz- und Sicherheitsbehörden: Damit Retraumatisierungen und Victim Blaming verhindert werden können, muss der Umgang mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt gelernt sein. Daher fordert Operation Libero diesbezüglich die Einführung obligatorische Schulungen und den Einbezug der Thematik bei der Ausbildung, sei es bei der Polizei, der Justiz oder bei Anwält*innen.
  • Forschung und Datenerhebung zu sexualisierter Gewalt: Die zivilgesellschaftlich in Auftrag gegebene Befragung sexuelle Gewalt (gfs.bern, 2019) hat hohe Wellen geschlagen und den öffentlichen Diskus mitgeprägt. Daher fordert Operation Libero den Bund auf, solche Untersuchungen regelmässig und mit der notwendigen Tiefe durchzuführen, um potenzielle Missstände, z. B. bei der Umsetzung des revidierten Sexualstrafrechts, rasch aufzudecken.

Zusammenfassend betont Binggeli: “Es braucht jetzt weitere Massnahmen, um sexualisierte Gewalt effektiv zu bekämpfen und den Grundsatz ‘Sexuelle Handlungen nur mit Zustimmung’ in den Köpfen zu verankern”. Neben den von Operation Libero geforderten Massnahmen ist zudem die Bevölkerung gefordert, “Nur Ja heisst Ja” zu leben – nach dem heutigen Kuhhandel erst recht.

Eve Binggeli,
Co-Leiterin Team Sexualstrafrecht 

Denis Sorie
Co-Leitung Team Sexualstrafrecht

Artan Islamaj,
Leiter Kampagnen 

Gemäss dem heute beschlossenen Kompromiss wird bei Delikten sexualisierter Gewalt neu der “Nein heisst Nein”-Grundsatz gelten, wobei das sogenannte “Freezing” explizit erfasst wird. Konkret heisst das, dass Betroffene grundsätzlich noch immer aktiv ihre Ablehnung zu ungewollten sexuellen Handlungen signalisieren müssen, damit dies rechtlich gesehen als Vergwaltigung eingestuft werden kann. Verfallen Betroffene in eine Schockstarre, bei der sie ihre Ablehnung nicht mehr aktiv zeigen können, kann dies durch den Kompromiss neu immerhin ebenfalls als Vergewaltigung sanktioniert werden. Offen bleibt dabei aber die Auslegung der Schockstarre durch die Justiz.