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Freiheit ist mehr als weniger Staat

Staat ≠ Gurkensalat

Wie viel Staat wollen wir? Wir meinen: wir sollten aus dem Staat nicht Gurkensalat machen. Denn wir brauchen staatliche Institutionen, um die Freiheit und die Entfaltung des Einzelnen zu ermöglichen.

Erstmalig auf schweizermonat.ch erschienen.

von Ivo Scherrer und Stefan Schlegel

«Heute wollen alle liberal sein. Also ich bin sehr liberal. Viel liberaler als die Liberalen liberal sind», hat Christoph Blocher kürzlich auf Tele Blocher gesagt. In einer der beiden Aussagen ist ihm beizupflichten: Liberal sein wollen in der Schweiz von den Grünen bis zur SVP fast alle. Liberal sein ist en vogue und fleissig wird darum gestritten, wer die liberale Flagge am Höchsten hissen darf. Dabei steht meist eine Frage im Zentrum der Auseinandersetzungen: wie viel Staat wollen wir? Wir meinen: weniger ist nicht unbedingt mehr. Denn wir brauchen staatliche Institutionen, um die Freiheit und die Entfaltung des Einzelnen zu ermöglichen. Dabei dürfen wir aber nicht vergessen: der Staat und seine Souveränität sind niemals Selbstzweck. Der Zweck staatlichen Handelns ist stets die Freiheit des Individuums.

Mehr Freiheit, weniger Staat?

Wollen wir entscheiden, was der Staat soll, müssen wir entscheiden, woran sich die Politik überhaupt orientieren soll. Die Frage mag banal erscheinen und unsere Antwort auf den ersten Blick ebenso: Politik soll es ermöglichen, dass jede und jeder Einzelne so viele Freiräume wie nur möglich geniessen kann. Solange jeder Einzelne die Freiheit und die Würde seiner Mitmenschen respektiert und für sich selbst Verantwortung übernimmt, ist er nur seinen eigenen moralischen Überzeugungen Rechenschaft schuldig. Wir alle können selbst am Besten entscheiden, wie wir leben, wie wir lieben, wie wir arbeiten, wie wir wirtschaften, woran wir glauben wollen. Weder Gesellschaft, Staat noch Politik wissen, was für uns gut ist.

Der Einzelne ist stets Selbstzweck und darf nicht zur Schachfigur angeblich übergeordneter Interessen degradiert werden. Am meisten Leid hat die Menschheit dann angerichtet, wenn sie den Einzelnen in den Dienst der Nation, der Rasse, der Religion, der Klasse oder anderer Kollektive gestellt hat. Trotz aller Skepsis gegenüber Kollektiven sind wir der Überzeugung, dass der Staat nicht obsolet ist. Wer aus dem Staat Gurkensalat machen will, tut liberalen Anliegen keinen Gefallen. Wir brauchen den Staat, um die Grundrechte zu schützen, den Wettbewerb zu garantieren und Marktversagen zu korrigieren. Tun wir das nicht, regiert das Recht des Stärkeren. Der Staat sollte also kluge Rahmenbedingungen schaffen, damit selbstverantwortliches Wirtschaften und freie Lebensentwürfe möglich werden. Gleichzeitig wissen wir, dass staatliche Macht die grösste Bedrohung für die Freiheit darstellt, da Macht korrumpiert und der Staat potentiell unbegrenzte Mittel hat, um in das Leben seiner Bürger einzugreifen.

Die Demokratie ist ein Werkzeug, keine Ersatzreligion

Wenn es darum geht, den Staat zu schaffen, und staatliche Entscheide zu treffen, ist Demokratie das mit Abstand beste Verfahren. Demokratische Verfahren kontrollieren und beschränken die Macht der  Politik und bieten ein gewisses Mass an Mitbestimmung. Eine liberale Politik ist daher zwangsläufig eine demokratische Politik und muss sich für die Pflege und den Ausbau demokratischer Verfahren einsetzen. Demokratie ist aber keine Ersatzreligion für ein säkulares Zeitalter. Wenn sie zur Ursache dafür wird, dass die Freiheit des Einzelnen ohne Not verletzt wird, so muss sie angepasst werden. Das ist etwa dann der Fall, wenn mittels Volksinitiativen Grundfreiheiten verletzt werden. Der Zweck des Staates und damit auch der Demokratie liegt im Schutz der Grundfreiheiten, nicht in der Durchführung von Volksinitiativen.

Ebenso wichtig wie die Frage, welche Aufgaben der Staat wahrnehmen soll, ist die Frage, welche staatliche Ebene eine bestimmte Aufgabe wahrnehmen soll: internationale Organisationen, der Bund, die Kantone oder die Gemeinden? Hier kommt das Prinzip der Subsidiarität zur Anwendung. Eine staatliche Kompetenz sollte auf der untersten möglichen Ebene angesiedelt sein. Denn je kleinräumiger eine staatliche Tätigkeit ausgeübt wird, desto kleiner ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie grossen Schaden anrichtet und desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie den spezifischen Bedürfnissen der Bürgerinnen und Bürger entspricht. Wie Demokratie ermöglichen auch Föderalismus und Subsidiarität, dass jede und jeder Einzelne Einfluss auf diejenigen staatlichen Entscheide nehmen kann, die sie oder ihn betreffen.

Funktionalität statt Souveränität

Nationalstaaten können aber auch zu klein werden, um eine Staatsaufgabe sinnvoll wahrzunehmen. So hat die Schweiz ein vitales Interesse daran, grenzüberschreitende politische und wirtschaftliche Probleme mit ihren internationalen Partnern anzugehen. Auf die Souveränität zu pochen, um sinnvolle Kooperationen zu verhindern ist nicht sinnvoll und überhöht den Staat genau zu dem, was er nicht werden darf: Zu einem Selbstzweck, dessen Grösse und Macht wichtiger ist als die Funktionstüchtigkeit seiner Institutionen. Der Staat ist lediglich eine Ansammlung von Institutionen, die im Dienste der Gesellschaft stehen. Eine kollektive Identität zu stiften oder zu verteidigen, ein Gemeinschaftsgefühl zu schaffen, ist nicht seine Aufgabe. Der Staat soll eine durch und durch profane Angelegenheit bleiben, dessen Tätigkeit jederzeit gerechtfertigt werden muss.

Wenn staatliche Institutionen ihre Aufgabe nicht mehr richtig wahrnehmen können, müssen sie angepasst werden. Zweck staatlichen Handelns ist stets das Individuum. Der Staat ist nur Mittel zum Zweck. Unter dieser Prämisse sollten wir auch die Beziehung der Schweiz zur EU betrachten: welchen Beitrag leistet die EU zur Freiheit des Einzelnen? Dass die Europäer nicht mehr im Namen ihrer Vaterländer auf den Schlachtfeldern Europas verheizt werden, sondern sich ihre Heimat unter der Personenfreizügigkeit selbst auswählen können, erachten wir als grossartige Errungenschaft. Eine Institution, die dazu beiträgt, dass auf dem europäischen Kontinent die längste Friedensperiode der Geschichte anhält, verdient unsere Sympathie.

Mit dem Ziel, die Güterfreiheit, die Kapitalfreiheit, die Dienstleistungsfreiheit und die Personenfreizügigkeit zu verwirklichen, ist die EU im Kern ein liberales Projekt. Doch wie jede politische Institution ist sie anfällig auf zentralistische, bürokratische und planwirtschaftliche Versuchungen. Dies ändert nichts daran, dass die Schweiz Teil Europas und aufs Engste mit der EU verwoben ist. Unsere Europadebatte sollte sich darum vor allem um drei Fragen drehen: Wie können wir in denjenigen Fragen, die uns direkt angehen, auch mitbestimmen? Und wie können wir auch in Zukunft an den europäischen Institutionen und am europäischen Binnenmarkt teilnehmen? Und was können wir tun, damit diese föderalistischer, schlanker und demokratischer werden?

Wettbewerb als Versicherung gegen verkrustete Strukturen

Als gefährlich erachten wir den weitverbreiteten Wunsch vieler Schweizerinnen und Schweizer, das Glück nicht nur hinter hochgezogenen politischen Grenzen, sondern auch hinter hohen wirtschaftlichen Grenzen zu suchen. Eine milliardenfache globale Arbeitsteilung und ein lebendiger Austausch von Ideen, Technologien, Dienstleistungen und Produkten sind die besten Garanten für Wohlstand und Fortschritt. Wollen wir Fortschritt, dann brauchen wir Wettbewerb. Denn Wettbewerb ist nicht nur ein Motor für Innovationen, sondern auch die beste Versicherung gegen verkrustete Strukturen und die Konzentration wirtschaftlicher Macht. Eine Kernaufgabe des Staates sollte also darin bestehen, sicherzustellen, dass sich fairer Wettbewerb entfalten kann, und dies am besten über Landesgrenzen hinweg. Dafür muss der Staat unter Umständen auch Marktversagen korrigieren, zum Beispiel dann, wenn Produzenten oder Konsumenten nicht für alle Kosten gerade stehen, die sie verursachen. Um Wettbewerb zu ermöglichen, sollte der Staat auch davon absehen, einzelne Branchen oder Unternehmen zu privilegieren und zu subventionieren. Privilegienwirtschaft erfolgt immer auf Kosten der Allgemeinheit.

Wenn die Entfaltung des Wettbewerbs ein zentraler Pfeiler der Wirtschaftspolitik darstellen soll, bedeutet dies nicht, dass diejenigen, welche der Unterstützung bedürfen, keine Unterstützung erhalten sollen. Nicht Leistung allein ist für den Erfolg oder das Scheitern der Menschen verantwortlich, es ist auch ein Produkt des Zufalls, ob wir unter Umständen aufwachsen und mit Fähigkeiten ausgestattet sind, die uns eine erfolgreiche Teilnahme am Wettbewerb erlauben. Eine gezielte Umverteilung und eine über Steuern finanzierte öffentliche Grundausbildung sind deshalb unerlässlich, um gesellschaftlichen Aufstieg und fairen Wettbewerb zu ermöglichen. Nur so kann die Schweiz ein Chancenland sein.

Kritisch stehen wir aber dem Bestreben der Politik gegenüber, wirtschaftliche Prozesse steuern zu wollen – ein Fetisch, dem die hiesige Politik besonders gerne verfällt, wenn es um den Arbeitsmarkt und Zuwanderung geht. Arbeitskraft über Zuwanderungsquoten zu beschränken, ist nichts anderes als Planwirtschaft – mit allen negativen Nebenwirkungen, die Planwirtschaft mit sich bringt. Woher soll ein Beamter oder eine Politikerin wissen, was die Wirtschaft braucht, welches Unternehmen welche Angestellte benötigt? Niemand hat die Informationen, die Analysefähigkeiten oder die Unabhängigkeit, um wirtschaftliche Prozesse zentralistisch planen zu können. Unser Arbeitsmarkt, unsere gesamte Volkswirtschaft besteht auf einem sich stets verändernden Netz von Tüftlern, Produzenten, Händlern, Anbietern, das sich nach den Bedürfnissen der Verbraucher richtet. Versuche, diesem Netzwerk durch Kontingente, Verbote und Subventionen gewisse Resultate vorzugeben, ersticken die Dynamik und lösen Nebeneffekte aus, die niemand vorhersehen kann.

No Taxation Without Representation

Die fortschreitende globale Vernetzung der Menschheit ist eine Realität und diese wird besonders stark auf dem Arbeitsmarkt spürbar, der sich in den letzten Jahren stark internationalisiert hat. Der zunehmende Anteil ausländischer Arbeitskräfte in der Schweiz wirft auch staatspolitische Fragen auf. Kann eine Demokratie funktionieren, wenn knapp ein Viertel der Bewohnerinnen der Schweiz zwar von den Auswirkungen demokratischer Entscheide betroffen ist, selbst aber nicht am demokratischen Prozess teilnehmen kann? Wir haben unsere Zweifel. Denn wer in der Schweiz lebt, unabhängig davon, ob er hier geboren worden ist oder nicht, ist Teil der Schweizer Gesellschaft und zahlt Steuern an das Schweizer Gemeinwesen wie die gebürtigen Schweizerinnen und Schweizer auch. Daher soll er die gleichen demokratischen Rechte geniessen wie die gebürtigen Schweizerinnen und Schweizer auch. Wir lehnen jegliche Privilegien und Pfründe aufgrund nationaler Hochwohlgeborenheit ab.

Die jüngsten Diskussionen um den Gehalt des Liberalismus kristallisiert sich an Fragen zu Zuwanderung, zu Wettbewerb, zu staatlichen Institutionen und zur Demokratie. Wer hier Zuwanderung mit Planwirtschaft steuern will und gleichzeitig Zuwanderern die demokratische Repräsentation erschwert, wer den «Volkswillen»  über die Grundrechte des Einzelnen stellt, liefert auf diese Fragen aus unserer Sicht keine liberale Antworten. Heute wollen alle liberal sein, das stimmt. Nur die Antworten sind es häufig nicht. Zumindest nicht für uns. Wir wollen einen staatstragenden und zugleich staatskritischen Liberalismus, einen Liberalismus, der die Schweiz als Chancenland anerkennt und der sich bewusst ist, dass die Freiheit des Einzelnen an erster Stelle steht. Alles andere ist Mittel zum Zweck.