Wieso es die Europa-Initiative auch nach der Aufnahme von Verhandlungen mit EU braucht

Verhandlungen mit EU: die Stunde der Wahrheit rückt näher

Die Europa-Initiative braucht’s erst recht

Der Bundesrat hat den Entwurf eines Verhandlungsmandats mit der Europäischen Union genehmigt. Nach zweieinhalb Jahren Eiszeit mit unserer wichtigsten Partnerin ist das ein wichtiger erster Schritt. Doch die Frage unseres Verhältnisses zu Europa ist so wichtig, dass sie ohnehin in die Verfassung gehört. Und: Der heikelste Punkt auf dem Weg zu einer langfristigen Lösung steht noch bevor. Wieso wir uns zwar freuen, es die Europa-Initiative aber jetzt erst recht braucht.

Seitdem der Bundesrat im Mai 2021 das Rahmenabkommen mit der EU ohne Plan B beerdigt hat, herrscht Eiszeit mit unserer wichtigsten Partnerin: Die Zusammenarbeit in den Bereichen Kultur, Forschung, Bildung oder Energieversorgung ist erstarrt. Verhandlungen über eine institutionelle Lösung waren auf Eis gelegt. Jetzt, nach den Wahlen, gibt es endlich wieder Bewegung. Vielleicht ist es gar das lang ersehnte Tauwetter am Horizont.

Nach zweieinhalb Jahren des Zögerns, der leeren Phrasen und des Um-den-heissen-Brei-Redens hat der Bundesrat den Entwurf eines Verhandlungsmandats mit der EU genehmigt. Das ist wichtig und erfreulich.

Aber freuen wir uns nicht zu früh: Das letzte Mal hat der Bundesrat den Mut nicht aufgebracht, einen in den wichtigsten Punkten sehr ähnlichen Vertrag, wie wir ihn jetzt wohl aushandeln werden, politisch zu verteidigen. Der heikelste Punkt kommt also erst nach den Verhandlungen: die politische Verteidigung des Verhandlungsergebnisses gegen den Isolationismus der SVP, gegen den Protektionismus der Gewerkschaften und gegen den Opportunismus aller anderen.  Dass der Bundesrat und die Bundesratsparteien dann wieder kalte Füsse bekommen, ist weiterhin ein plausibles Szenario.

Der EU-Abgeordnete Andreas Schwab, der die Delegation im EU-Parlament leitet, die für die Beziehungen zur Schweiz zuständig ist, zeigte sich im Tamedia-Interview von dieser Woche pessimistisch zurückhaltend: “Ich bin da vorsichtig. Ich habe diesen jahrelangen Prozess der Verhandlungen, des Verhandlungsabbruchs und der endlosen Sondierungen zwischen der EU-Kommission und dem Bundesrat verfolgt, sodass ich negative Überraschungen nicht ausschliesse.”

Die SP hat sich bereits hinter die Gewerkschaften gestellt, die das Verhandlungsmandat angegriffen haben, bevor es beschlossen war. 

Eine Frage, die uns jetzt oft gestellt wird, ist: Wird die Europa-Initiative jetzt hinfällig? Nein, im Gegenteil.

Zwei Gründe, wieso es die Europa-Initiative jetzt erst recht braucht 

Grund 1: Die Europa-Initiative macht Europa endlich zum Thema in unserer Verfassung

Die Europa-Initiative will weit mehr, als “einfach” eine momentane Situation rund um die institutionellen Fragen zu verbessern. Sie will unser Verhältnis zu Europa vertieft diskutieren. Die Europa-Initiative will, dass in der Verfassung die Idee verankert ist, dass die Schweiz zu Europa gehört und in der einen oder anderen Form eine aktive und gestaltende Rolle in diesem Projekt einnehmen soll. Das bedeutet nicht, dass die Schweiz ein Mitglied werden muss der EU oder des EWR, sondern dass die Schweiz proaktiv eine Rolle einnehmen und diese gestalten soll, nicht lediglich Spielball der Interessen anderer sein darf, wie dies heute der Fall ist. Es geht darum, dass wir wieder die Pilot*innen unserer eigenen Zukunft werden. 

Das neue Verhandlungsmandat macht dieses Ziel nicht obsolet. Wer momentan die Verfassung durchsieht, der wird darin Regeln finden zu den Fuss- und Wanderwegen, zu Burkas und zu Branntwein, aber kein Wort zu Europa. Kein Wort. Es ist eine Frage, die jeden einzelnen Aspekt unseres Zusammenlebens prägt und jeden grossen Themenblock, den die Verfassung regelt: unsere Grundrechte, unseren Föderalismus, unsere Staatsorganisation. Aber Europa taucht in unserer Verfassung schlicht nicht auf. Das ist – ganz unabhängig von einer momentan anstehenden Frage um die institutionelle Beziehung – ein grosses Defizit für unsere Verfassung, das behoben werden muss. 

Die Art, wie die Europa-Initiative das beheben würde, ist stark werteorientiert. Der Binnenmarkt ist wichtig, er ist so etwas wie das Gerüst, das Rückgrat unserer Beziehung. Aber es ist eben mehr als eine rein wirtschaftliche Beziehung zwischen uns und Europa. Es ist eine Beziehung, die auf gemeinsamen Werten und gemeinsamer Zukunft beruht, eine Beziehung, die von der Schweiz deshalb aktiv gestaltet werden soll, weil wir wirklich an diese Werte glauben und weil wir glauben, dass die Welt ein besserer Ort ist, wenn das europäische Friedens- und Freiheitsprojekt gelingt und wachsen kann. Ein solcher Grundsatzentscheid ist ganz unabhängig vom Tagesgeschäft und spätestens seit dem russischen Angriff auf ein demokratisches, rechtsstaatliches Europa überfällig. In die Verfassung damit. 

Grund 2: Der heikle Punkt des Prozesses steht noch bevor

Ein konkreteres Ziel der Initiative ist aber schon auch, dass es vorwärts geht mit den institutionellen Fragen. Die formelle Aufnahme von Verhandlungen ist dafür zugegebenermassen ein wichtiger Schritt. Nur ist es nicht der entscheidenste und nicht der heikelste Schritt auf dem Weg zu einer institutionellen Lösung (auch wenn er als Etappe schon schwierig genug war, hat es seit der Beerdigung des Rahmenabkommens doch zweieinhalb Jahre gedauert). Der heikelste Punkt ist dort, wo der Prozess im Jahr 2021 schon einmal gescheitert ist – nach dem Ende der Verhandlungen und vor dem Beginn des politischen Prozesses. Dort, wo der Bundesrat politisches Kapital einsetzen müsste für eine institutionelle Lösung. 

Es ist der Punkt, an dem man vom warmen Verhandlungszimmer in den rauhen Wind der Öffentlichkeit treten muss und das Ergebnis der Verhandlungen politisch verteidigen muss. Denn in den entscheidenden Punkten wird die EU der Schweiz nicht viel entgegenkommen können. Es wird im Wesentlichen eine Neuauflage des Abkommens von 2018/2021 drinliegen, von dem der Bundesrat nicht den Mut hatte, es in den politischen Prozess einzuspeisen. Es wäre neu verpackt und garniert mit einigen inhaltlichen Rosinen. Aber die grossen Kröten (Gerichtshof, Rechtsübernahme) werden bleiben.

Darum muss sich die europapolitische Ausgangslage gegenüber dem Mai 2021 grundlegend ändern, bevor wir wieder an diesem heiklen Punkt sind. Genau das ist auch ein Ziel der Europa-Initiative und der dahinter stehenden Europa-Allianz aus mittlerweile elf Organisationen. Wir wollen eine Debatte über unser Verhältnis zu Europa erzwingen. Eine Debatte von einer Intensität und Dauer, die eine Verschiebung des Diskursrahmens erlaubt, sodass die Grundtonart  eine andere, positivere ist, die Chancen auf eine Mehrheit entschieden besser sind. Wir wollen zeigen, dass es ein starkes proeuropäisches Lager in der Schweiz gibt. Der zweite Mechanismus, mit dem die Initiative über den heikelsten Prozess hinweghelfen soll, ist, indem sie dem Bundesrat die Entscheidung vereinfacht, das Verhandlungsergebnis diesmal tatsächlich auch politisch vorzulegen. 

Denn die Europa-Initiative signalisiert ihm, dass die Volksabstimmung über unseren Platz in Europa, dem die Bundesratsparteien so gerne aus dem Weg gehen würden, so oder so kommt. So hilft dem Bundesrat sanfter, aber verbindlicher Druck aus der Zivilgesellschaft über die schwierigste Klippe auf einem insgesamt sehr steinigen Weg hinweg. 

Die zentrale Frage

Ein zentrales Problem in unserer Europapolitik ist und war, dass sie auf ein Seilziehen unter Diplomat*innen reduziert wird. Doch eigentlich geht es um unsere Identität und unsere Werte. Im Europadossier kristallisiert sich die Frage, wo unsere gemeinsame Reise als eine politische Gemeinschaft hingehen soll. Über diese Frage müssen wir dringend diskutieren, nun, da das Seilziehen der Diplomat*innen wieder beginnt, sonst wird jenes wieder scheitern. Das Instrument, mit dem wir diese Debatte erzwingen, ist unsere Volksinitiative.