Europa ruft!

Frieden

Vor 80 Jahren endeten in Europa die Gräuel des Zweiten Weltkriegs. Daraus entstand ein eindrückliches Friedens- und Freiheitsprojekt – auch dank der Schutzmacht USA. Doch diese demokratische Pax Americana ist zu Ende. Die Frage ist jetzt nicht, was Europa für uns tut, sondern was wir für Europa tun können, schreibt Thomas Cottier im Gastbeitrag zum Europatag.

«Die Schweiz ist unsere Heimat. Aber die Heimat der Schweiz ist Europa». Diesen Satz hat uns der eben verstorbene Schweizer Schriftsteller Peter von Matt hinterlassen. Er trifft seit langem zu für die Kultur. Die Schweiz ist Teil des europäischen Kulturraumes. Er trifft auch zu für die wirtschaftlichen Beziehungen. Die Schweiz ist Teil des europäischen Binnenmarkts und verdankt diesem ihren Wohlstand zu einem grossen Teil.

Heimat ist, wo wir leben und lieben, wo wir vertraut sind und uns engagieren. Für Staat und Politik sind dies die Gemeinden, die Kantone und der Bund. Europa gehört nicht dazu.

thomas cottier

«Die neutrale Schweiz versucht mit allen gleichermassen im Geschäft zu bleiben und tritt in internationalen Organisationen als einsame Spielerin auf dem Parkett auf. Sie hat keine wirklichen Verbündeten, auch nicht in Europa. Sie ist einsam.»

Thomas Cottier

An ihren offiziellen Gebäuden flattern am 9. Mai, am offiziellen Europatag, keine Europafahnen, anders als noch im späten 20. Jahrhundert. Das Engagement für Europa ist verblasst. 

Bundesrat und Parlament tragen diese verblasste Politik. Noch immer sind die Bilateralen III nicht unterzeichnet und werden auf die lange Bank geschoben. Eine positive Stellungnahme des Bundesrates bleibt aus, während er gleichzeitig mit Autokraten in Washington und Peking verhandelt, in der Hoffnung, auch in Europa möglichst eigenständig und neutral zu bleiben. Die EU wird von der Wirtschaft als bürokratisches Monster verschrien. 

Dahinter steckt die Ablehnung von Vorlagen zur Nachhaltigkeit und den damit verbundenen Verpflichtungen der Privatwirtschaft. Eine Beteiligung an CBAM (Carbon Border Adjustment) wird abgelehnt, ebenso wie klimapolitische Handlungspflichten im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention. In der Unterstützung der Ukraine, also dort wo heute die Freiheit verteidigt wird, steht die Schweiz am Schluss der Rangliste. Den Autokraten in Washington verkauft man all dies als Attribute schweizerischer Eigenart.

Diese Grundhaltung war so lange möglich, wie die Pax Americana der letzten 80 Jahre währte, die auf einer demokratischen, transatlantischen Allianz zwischen den USA und der EU und ihren Mitgliedstaaten basierte. Sie bot der Schweiz eine Plattform, in den internationalen Beziehungen selbständig zu navigieren. Diese transatlantische Allianz besteht nicht mehr. Die Schweiz muss sich entscheiden und darauf besinnen, dass auch ihre politische Heimat klar in Europa liegt. Sie muss das Vermächtnis von Peter von Matt ernst und an die Hand nehmen.

Vordringlich ist der Handlungsbedarf in der Sicherheitspolitik. Es ist unbestritten, dass sich die Schweiz allein nicht verteidigen kann. Sie kann, mit anderen Worten, den zentralen Verfassungsauftrag nicht mehr im herkömmlichen Alleingang sicherstellen.

thomas cottier

«Ihre Neutralität wird von unseren Nachbarn als Trittbrettfahren (Freeriding) verstanden und hat – im Unterschied zum 19. Jahrhundert – keine Legitimität und Glaubwürdigkeit mehr. Die Neutralität hat keine tragfähige Schutzfunktion mehr.»

Thomas Cottier

Die Fiktion der Selbständigkeit führt dazu, dass die Schweiz zunehmend europäisches Recht übernimmt, zu dessen Entstehung sie zumeist keine Mitsprache, geschweige denn Mitbestimmung, ausübt. Auch hier kann sie im Alleingang grundlegende Werte der Verfassung wie die demokratische Willensbildung nicht mehr allein sicherstellen. Kulturelle und wirtschaftliche Integration in Europa bei gleichzeitiger politischer Abstinenz genügen nicht mehr. 

Will die Schweiz ihre Würde, ihre demokratischen und liberalen Werte und damit auch unsere Selbstachtung erhalten, muss sie sich in Europa aktiv einbringen. Dazu gehört kurzfristig ein Engagement in der europäischen Sicherheitsarchitektur, die heute im Entstehen ist. Dazu gehört ein aktives Engagement in der Europäischen Union, über die Bilateralen III hinaus. Die Frage der Migration kann nur gemeinsam gelöst werden. So wird Europa auch politisch zur Heimat. Wir müssen den Patriotismus über die Landesgrenzen hinaus tragen und erweitern. Er ist nicht ein Vorrecht national-konservativer Kreise, sondern kann und muss ebenso von der fortschrittlichen, offenen, liberalen und sozialen Schweiz beansprucht werden. Sie liebt unser Land ebenso und hängt an ihrer Heimat. Das Rütli gehört uns allen. 

Unsere Nachbarn und die EU sind interessiert an einem stärkeren Engagement der Schweiz in der grundlegenden Auseinandersetzung zwischen Demokratie und Autokratie, welche das europäische Projekt heute mehr als zuvor gefährdet. Sie sind in der Verteidigung der Demokratie auf die Unterstützung Grossbritanniens und aller EFTA-Staaten angewiesen.

thomas cottier

«Es gilt heute, den demokratischen Westen in Europa zu stärken. Die Schweiz kann hier mit ihrer Wirtschaft und Finanzmacht, ihrer Rechtsstaatlichkeit, ihrer Wissenschaft und vor allem ihrer eigenen politischen Kultur des demokratischen Diskurses und des kooperativen Föderalismus wesentlich beitragen.»

Thomas Cottier

Ihre Politikerinnen und ihre Diplomatie können konstruktive Vorschläge einbringen. In welcher Form dies geschieht, ist zweitrangig. Ob der beste Weg über einen Beitritt zur EU und NATO führt, oder über eine variable andere Form ist im heutigen Zeitpunkt nicht massgebend. Entscheidend ist der Wille zum Engagement. Die Frage ist in Anlehnung an John F. Kennedy nicht, was Europa für uns tut, sondern was wir für Europa tun können. 

Politik ist immer bestimmt durch Eigeninteressen. Das gilt auch in Europa, wo Nationalstaaten weiterhin dominieren. Der springende Punkt ist, dass die Interessen der Schweiz, ihrer Nachbarn und der Europäischen Union heute gleichgerichtet sind. Sie basieren auf den gleichen Werten, die es heute in der Welt nach dem Zusammenbruch der Pax Americana zu verteidigen gilt. Europa ist die politische Heimat der Schweiz. Es gilt, beiden zugleich Sorge zu tragen. Hissen wir am 9. Mai die Europafahne. Das ist ein Anfang und eine Hommage an Peter von Matt.


Verfasser: Thomas Cottier ist Präsident der Vereinigung La Suisse en Europe und emeritierter Professor für europäisches und internationales Wirtschaftsrecht an der Universität Bern. 

Gewünschten Betrag wählen:
CHF
Yes, Kryptowährung geht auch.
Stand: 37’325 Fr. | Ziel: 60’000 Fr.
62%