hero anti chaoten initiative tell zürich

Von Pornos, Chaoten und Wilhelm Tell

2x Nein zur «Anti-Chaoten-Initiative» der SVP im Kanton Zürich

Die «Anti-Chaoten-Initiative» der SVP und der Gegenvorschlag fordern im Kanton Zürich eine generelle Bewilligungspflicht für alle Demonstrationen sowie die Überwälzung der Kosten für Polizeieinsätze auf die Organisierenden und Teilnehmenden von nicht bewilligten Demonstrationen. Dies bedroht die im Völkerrecht und in der Bundesverfassung garantierte Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Operation Libero setzt sich für ein doppeltes Nein am 3. März ein.

Der bekannte Pornoverleger Larry Flint hat die Bedeutung von Freiheit einmal treffend formuliert: «If you want to live in a free society, you need to tolerate things you don’t necessarily like, so you can be free.»

Freiheit und Toleranz gelten in einer Demokratie auch gegenüber Demonstrationen – so verlangt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) von Staaten Toleranz gegenüber friedlichen Demonstrationen, auch wenn sie nicht angekündigt oder bewilligt sind. Diese Toleranz erstreckt sich explizit auch auf ein gewisses Mass an Störung. Wer in einer freien Gesellschaft leben will, muss gewisse Störungen tolerieren können.

Das schweizerische Bundesgericht hat sich dieser Rechtsprechung angeschlossen. Und folgte damit keinen «fremden Richtern». Im Gegenteil: Die Bedeutung des Rechts zu demonstrieren ist schon im Lieblingsmythos der SVP das zentrale Element – bei Wilhelm Tell, dem Urschweizer «Chaoten». 

«Nein, eine Grenze hat Tyrannenmacht, Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden, Wenn unerträglich wird die Last – greift er hinauf getrosten Mutes in den Himmel, und holt herunter seine ewigen Rechte, die droben hangen unveräußerlich Und unzerbrechlich wie die Sterne selbst – […].» Mit diesen Sätzen gründet Werner Stauffacher das Recht der Eidgenossen zu demonstrieren auf ein Naturrecht auf gewaltsame Notwehr gegen politische Unterdrückung.

Zugegeben, damals haben die Eidgenossen noch nicht sehr friedlich demonstriert. Ein bisschen friedlicher, aber immer noch durchaus chaotisch zu und her ging es im Laufe des 20. Jahrhunderts. Damals waren es beispielsweise Freiheitskämpferinnen, die gegen ihre politische Unterdrückung demonstrierten und bis 1971 für das Frauenstimmrecht auf die Strasse gingen. Und auch heute ist die Versammlungsfreiheit ein essentielles Freiheitsrecht, insbesondere auch für Personen, deren Stimmen an der Urne nicht zählen, etwa für Jugendliche und Ausländer*innen. 

Art. 16 BV gewährleistet die Meinungsfreiheit ausdrücklich und räumt jeder Person das Recht ein, ihre Meinung frei zu bilden und sie ungehindert zu äussern und zu verbreiten. Darunter fallen die verschiedensten Formen der Kundgabe von Meinungen. Die Versammlungsfreiheit gemäss Art. 22 BV gewährleistet den Anspruch, Versammlungen zu organisieren, an Versammlungen teilzunehmen oder Versammlungen fernzubleiben. Zu den Versammlungen gehören unterschiedlichste Arten des Zusammenfindens von Menschen im Rahmen einer gewissen Organisation mit einem weit verstandenen gegenseitig meinungsbildenden oder meinungsäussernden Zweck.

Quelle: BGE 132 I 256 E. 3

Friedlich zu demonstrieren ist ein grundlegendes Menschenrecht, keine Gefälligkeit des Staates. Die Organisation und Teilnahme darf nicht von einer Genehmigung der Behörden abhängig gemacht werden. Auch spontane und unbewilligte Demonstrationen sind grundrechtlich geschützt. Die friedliche Teilnahme an solchen Demonstrationen darf weder kriminalisiert noch sanktioniert werden.

Das gilt auch für unbewilligte, friedliche Demonstrationen und auch dann, wenn sie stören oder zu gewissen Beschränkungen des täglichen Lebens führen (z.B. wenn der Verkehr zeitlich begrenzt behindert wird). Auch das Bundesgericht hat festgehalten, dass die Behörden gegenüber solchen friedlichen Versammlungen eine gewisse Toleranz an den Tag legen müssen, damit die Versammlungsfreiheit nicht ausgehöhlt wird. Die von der SVP-Initiative und vom Gegenvorschlag geforderte «generelle Bewilligungspflicht» verunmöglichen Spontandemonstrationen gänzlich, was die Demonstrationsfreiheit im Kern angreift.

Nein zur Anti-Chaoten-Initiative

Gemäss dem UN-Menschenrechtsausschuss sind Forderungen an Organisierende oder Teilnehmende einer Demonstration, für die Kosten von Polizeieinsätzen oder anderen Sicherheitsmassnahmen aufzukommen oder sich nur schon daran zu beteiligen, grundsätzlich nicht mit dem Recht auf Versammlungsfreiheit vereinbar.

Das wollen die extreme SVP-Initiative und auch der Gegenvorschlag ändern: Kosten für Sachbeschädigungen oder Polizeieinsätze sollen von den Organisierenden und/oder  Teilnehmenden der Demonstration übernommen werden. Dies ist völkerrechtswidrig: Gewalttaten einzelner Teilnehmenden dürfen nicht ohne Weiteres den Organisierenden angelastet werden. 

Auch die Leitlinien der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) legen fest, dass Demo-Organisierende unter keinen Umständen verpflichtet werden dürfen, für Schäden aufzukommen, die von anderen Versammlungsteilnehmenden verursacht wurden – es sei denn, sie haben dazu angestiftet oder sie anderweitig direkt verursacht. Doch hierfür gibt es bereits ein griffiges Regelwerk: das Strafrecht.

Es würde einer Kollektivstrafe gleichkommen, die Kosten für Schäden unbeteiligten Teilnehmenden oder Organisierenden aufzubürden. Die Initiative und der Gegenvorschlag missachten, dass in einem demokratischen Rechtsstaat nur gestraft wird, wenn ein individuelles Verschulden mit Beweisen nachgewiesen werden kann.

Friedliche Demonstrationen gehören zu einer lebendigen Demokratie. Diese Initiative sowie der Gegenvorschlag setzen sich über das Strafrecht hinweg und führen über die verlangte Kostenabwälzung faktisch eine Kollektivstrafe ein, die eine abschreckende Wirkung auf den Gebrauch der Meinungs- und Versammlungsfreiheit hat.

Diese abschreckende Wirkung – auch «chilling effect» genannt – würde dazu führen, dass sich Personen nicht mehr trauen, an Demonstrationen teilzunehmen oder solche zu organisieren. Denn niemand kann den Demonstrierenden und Organisierenden garantieren, dass es nicht zu Schäden kommt. Damit greifen die Initiative und der Gegenvorschlag den liberalen Rechtsstaat fundamental an. Beide Vorlagen haben in unserer Demokratie nichts verloren und gelten abgelehnt. Denn wo stünden wir heute, wenn unsere Vorfahr*innen aus Angst vor dem finanziellen Ruin nicht auf die Strasse gingen und für unsere Rechte eingestanden wären?

Freiheit heisst, etwas – in Flints Welt wohl Pornos – nicht zu verbieten, nur weil es nicht dem eigenen Geschmack entspricht, denn es würde auch die eigene Freiheit in Frage stellen. Diese Antwort ist auch Befürwortenden der extremen «Anti-Chaoten-Initiative» zu geben: Mit einem doppelten Nein am 3. März.


Verfasserinnen: Elena Michel und Sanija Ameti

Elena Michel und Sanija Ameti
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