Stefan Schlegels Abschiedsrede

Europapolitik als Brutkasten für einen erneuerten Liberalismus

Eine Abschiedsrede von Stefan Schlegel

Seit der ersten Minute der Operation Libero gab Stefan Schlegel sein Hirn und Herz für unsere Bewegung her. In seiner Abschiedsrede nach zehn Jahren im nationalen Vorstand sprach er über die tiefe Krise des Liberalismus. Darunter leide auch die Europapolitik. Eine Voraussetzung für eine bessere Europapolitik sei darum ein besserer Liberalismus und umgekehrt könne der Liberalismus nur an der Europapolitik genesen. Zwei Bitten zum Abschied.

Wenige Tage vor meinem Rücktritt aus dem Vorstand der Operation Libero habe ich mich plötzlich wieder erinnert an den Song, den ich 2014, am Abend vor der Gründung der Operation Libero, gehört habe, um mich aufzupitchen und dann allen anderen geschickt habe, um sie auch aufzupitchen. 

Er ist von Black Rebel Motorcycle Club und der Refrain geht: 

I fell in love with a sweet sensation
I gave my heart to a simple chord
I gave my sole to new religion 
Whatever happened to you? 
Whatever happened to our rock’n’roll?

Der Grund, warum mir das damals zur Gründung der Operation Libero so passend schien, ist, weil es bei der Operation Libero immer um eine einfache Idee ging, um einen einfachen Akkord: den Zusammenklang von Freiheit und Würde. Der nach meiner Auffassung das Kernelement des Liberalismus ist: die einfache Idee, dass Macht über andere nur dann legitim sein kann, wenn Zweck und Ziel dieser Macht die Freiheit und die Würde des Individuums ist.

Stefan Schlegel, ich kenne niemanden, der die Menschen in diesem Land so überfordern kann wie du. Und nein, es liegt nicht einzig an deinem exzessiven Gebrauch des Konjunktivs. Es ist deine Schnelligkeit, dein immenses Wissen, dein Intellekt, deine Hartnäckigkeit, deine Witze, für die man zu lange überlegen muss, und dann noch am nächsten Tag lacht. Aber was mich am allermeisten überfordert, ist dich gebührend zu verdanken.

Weil es keine Verdankung gibt, welche dir und deinem Einsatz für Operation Libero gerecht wird. Du hast in diesen 10 Jahren seit der ersten Minute der Existenz von Operation Libero alles hergegeben: dein Hirn, dein Herz, deine Seele, deine Liebe. Und ich meine wirklich seit der ersten Minute. Die Lyrics, die du frühmorgens vor der ersten PK an den Vorstand geschickt hast, sind der beste Beweis dafür.

Jetzt ist der Moment gekommen, an dem dir deine Freund*innen von Herzen alles Gute wünschen: Stefan, du wirst jetzt erster Direktor der ersten richtigen Menschenrechtsinstitution der Schweiz. Damit verlässt du deine politische Heimat nicht, du vergrösserst sie. Und wir sind unglaublich, unglaublich stolz auf dich. Der Weg, den wir gemeinsam gehen, ist immer noch weit. So let’s rock’n’roll.

Sanija im Namen des nationalen Vorstands

Danke Stefan Schlegel

Eine einfache Idee in einer tiefen Krise

Was ist geworden aus diesem einfachen Akkord? Mir scheint, er ist im öffentlichen Bewusstsein fast ebenso plötzlich in Vergessenheit geraten, wie man manchmal einen guten Song einfach eine Zeit lang nicht mehr hört und dann vergisst. Ein paar prägende Ereignisse aus den letzten zehn Jahren können das illustrieren. 

  • Im Brexit ging es um die Freiheit eines imaginären Kollektivs, einer Nation, die wieder «Kontrolle übernehmen sollte». Aber es ging um Kontrolle durch ein Kollektiv und zu Gunsten dieses Kollektivs. Um individuelle Freiheit ging es nie. Britische Rentner*innen, die in Südfrankreich ein Haus gekauft hatten, um dort ihren Lebensabend zu verbringen, haben das auf die harte Tour gelernt. 
  • In Trumps MAGA-Bewegung, der vielleicht prägendsten politischen Bewegung der letzten 10 Jahre, ging es immer um die Sicherung der Vorherrschaft durch eine bestimmte Gruppe – weisse, heterosexuelle Männer – nie um die Freiheit des Einzelnen. 
  • Hinter dem Aufstieg der AfD steht die Angst, als eine Gruppe durch eine andere Gruppe verdrängt zu werden. 
  • In der dünnen Attrappe eines Ethos, mit der Putin sein kleptokratisches Regime verbrämt, geht der Einzelne vollkommen im Kollektiv auf und darf von diesem ohne weiteres geopfert werden.
  • Am Horror des 7. Oktobers 2023 und am Horror, der sich seither in Gaza abspielt, kann man lernen, was passiert, wenn man andere Menschen reduziert auf ihre Zugehörigkeit zu einem Kollektiv und ausser Stande ist, sie als Individuen wahrzunehmen – mit Plänen, Träumen, Ängsten und einem Schmerzempfinden.

Alle diese Entwicklungen verbindet miteinander das Versprechen, dass man aufgehen könne in einem Kollektiv, das sich aus diesem (nicht aus individueller Freiheit) Würde und Sicherheit ergeben könne. Alle diese Entwicklungen haben miteinander gemeinsam, dass es keine politische Kraft gab, die ihnen mit einer einfachen Idee wirksam entgegengetreten ist: «Kollektive haben keine Gefühle, das haben nur Individuen. Wenn, dann darf das Kollektiv nur ein Mittel sein zum Zweck, das Individuum zu schützen. Nie umgekehrt.» 

Diese einfache Idee befindet sich in einer tiefen Krise und man merkt es dem Zustand der Welt an. 

Erneuern heisst nicht aufwärmen

Stefan Schlegel

Daher meine erste Bitte an die Operation Libero: Kämpft nicht nur für progressive Anliegen, kämpft auch um die liberale Idee selber! Erneuert nicht nur liberale Forderungen, erneuert auch den Liberalismus, der als Gegenkraft so gefehlt hat in den letzten Jahren.

Stefan Schlegel

Erneuern heisst nicht aufwärmen. Es geht darum, die einfache Idee auf die Herausforderungen unserer Zeit anzuwenden. Das heisst, es muss ein Liberalismus sein, der sich seiner eigenen problematischen Geschichte stellen kann, seiner Rolle im Kolonialismus zum Beispiel. Ein Liberalismus, der vereinbar ist mit sozialem Ausgleich, mit dem Kampf gegen den Klimawandel, mit der Gleichberechtigung von Frauen und der Gleichberechtigung von Neuhinzugekommenen. Ein Liberalismus, der wehrhaft ist, gegen die Kollektivisten im Innern und die Kollektivisten, die ihn von aussen bedrohen. Und ein Liberalismus, der technologischen Wandel zwar in erster Linie als Chance auffasst, aber als eine Chance mit Risiken. 

Vielleicht am wichtigsten: Es muss ein Liberalismus sein, in dem Freiheit wieder mehr ist als die Abwesenheit von Staatlichkeit, in dem die Beziehung zwischen dem Einzelnen und der öffentlichen Hand wieder realistischer aufgefasst wird, als dass es umso mehr Freiheit für das Individuum gebe, je weniger Gestaltungsmöglichkeiten die öffentliche Hand habe. Liberalismus muss wieder anerkennen, dass handlungsfähige (aber in ihrer Macht beschränkte!) öffentliche Institutionen oft eine Vorbedingung individueller Freiheit und Würde sind.

Stefans Abschiedsrede an der zehnten GV von Operation Libero am 16. März 2024

Wie fatal der Liberalismus seine eigene Gestaltungskraft aufgibt, wenn er öffentliche Institutionen grundsätzlich als eine Beschränkung von Freiheit auffasst, sieht man an einem Dossier, das die Operation Libero immer schon sehr beschäftigt hat, aber noch nie so stark wie jetzt: unser Verhältnis zu Europa

Die Frage, wo unsere gemeinsame Reise hingeht

Die Gegner*innen einer Einigung mit Europa nennen dieses Dossier die Mutter aller Schlachten und jedenfalls darin sind sie recht klarsichtig. Hier geht es ums Ganze – um die Frage, wo unsere Reise als eine politische Gemeinschaft hingeht, um die Frage nach unserer Identität, unserem Selbstverständnis, unserer Konzeption von Souveränität und Demokratie und unserem Verständnis von unserer Geschichte. 

Es geht auch um die Zukunft des Liberalismus in der Schweiz, denn auch hier – ähnlich wie beim Brexit – geht es den Gegner*innen einer Einigung immer um das Kollektiv und dessen angebliche Freiheit, nicht um das Individuum. Den Gegner*innen einer Lösung von links geht es um die Verhandlungsmacht in kollektiven Verhandlungen zwischen Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden. Diese Perspektive blendet gerade aus, dass sich dank der europäischen Einigung, besonders dank der Personenfreizügigkeit, dem individuellen Recht, an einem Arbeitsmarkt teilzunehmen, die individuelle Verhandlungsposition von Arbeitnehmenden enorm verbessert hat. 

Für die Gegner*innen von rechts geht es um die Freiheit des Souveräns, nicht um die Freiheit der Individuen, aus denen dieser zusammengesetzt ist. Beide Varianten von Gegner*innen einer institutionellen Lösung haben einen entscheidenden Vorteil gegenüber den Befüworter*innen: Sie können mit Freiheit und mit Autonomie argumentieren und damit die ganze mobilisierende Wirkung der Freiheit nutzen, auch wenn es eine bloss kollektive Freiheit und damit eine blosse Attrappe von Freiheit ist. 

Und was haben die Befürworter*innen einer institutionellen Lösung ihnen bisher entgegenzusetzen? Materielle Interessen! Es gelingt immer noch nicht, Europa als eine Frage individueller Freiheit und Würde darzustellen. Es gelingt immer noch nicht, das Thema Europa in diesem einfachen Akkord zu spielen. Das passiert, wenn man zwar Interessen vertritt, aber nicht Werte, wenn man die liberale Idee hinter den eigenen Forderungen vernachlässigt.

Instabile Spielregeln

Stefan Schlegel

Daher mein zweiter Wunsch: Die Operation Libero soll um die europäische Einigung als Ausdruck, aber auch als Voraussetzung für individuelle Freiheit und Würde kämpfen. Denn ohne die europäische Einigung kann es kein Europa geben ohne bewaffnete Konflikte und ohne Unterordnung.

Stefan Schlegel

Und es gibt nichts, was individuelle Freiheit so vernichtet und individuelle Würde so verletzt, wie nur schon die Drohung eines bewaffneten Konfliktes und die Unterordnung einer Gruppe unter eine andere.

Warum ist dies so? Staaten (in Europa und anderswo) haben alle eine Tendenz, ihre eigene Macht, ihren eigenen Wohlstand und ihre eigene Sicherheit zu Ungunsten der jeweils anderen auszubauen. Und sie alle haben eine Tendenz, überall sonst auf der Welt Herrschaftsverhältnisse zu etablieren, Menschen zu dominieren und zu unterwerfen, sodass sie einen wirtschaftlichen und geopolitischen Vorteil gegenüber anderen Staaten haben oder wenigstens ihren Nachteil diesen gegenüber limitieren können. Diese Dominanz ist immer mit systematischen Menschenrechtsverletzungen und mit systematischer Ausbeutung Anderer verbunden. In einer Welt, in der zusätzlich noch China, Russland und die USA versuchen, Dominanz zu gewinnen über diesen Kontinent und seinen Staaten jeweils Vorteile dafür gewähren, dass sie mithelfen, andere zu dominieren, wird die Dynamik der Unterordnung und die Bedrohung durch bewaffnete Konflikte noch zunehmen. 

Natürlich könnte man sagen, die Staaten Europas könnten doch einfach lernen aus ihrer blutigen Geschichte und sich darauf einigen, aufzuhören mit ihren Machtkämpfen und sich auf ein friedliches Nebeneinander verständigen. Aber diese neue Spielregel würde nur so lange funktionieren, wie alle mitmachen würden. Sobald ein Staat die Regeln verletzt und seine Macht zu Gunsten anderer ausbaut, müssten die anderen mitziehen, um nicht durch ihre eigene Regeltreue benachteiligt und langfristig einfach übernommen zu werden. Spiele, die nur funktionieren, wenn sich immer alle an die Regeln halten, sind sehr instabile Spiele. Wie fast alle Alternativen zur Europäischen Union, krankt dieser Vorschlag an einem sogenannten «collective action problem»
Sowohl Sicherheit und Wohlstand als auch die Grundrechte auf dem Kontinent brauchen daher einen Rahmen, ein Spiel, das stabiler ist. Dass es solche Spielregeln nicht gab, war einer der zentralen Gründe für den Ersten und dann für den Zweiten Weltkrieg.

Vier Freiheiten

Nach dem Zweiten Weltkrieg haben europäische Staaten zunehmend die militärische und die wirtschaftliche Fähigkeit verloren, andere Staaten ausserhalb Europas militärisch zu dominieren und direkt auszubeuten. Sie haben eine Alternative gebraucht. 

Diese Alternative ist die europäische Einigung. Deren Herzstück ist der europäische Binnenmarkt mit seinen vier Freiheiten. Diese vier Freiheiten schaffen die Möglichkeit, eine expandierende Wirtschaft haben zu können, ohne andere unterdrücken zu müssen – weil Expansion im gemeinsamen Markt möglich ist. Diese Freiheiten schaffen die Voraussetzungen dafür, die eigene militärische Sicherheit erhöhen zu können, ohne seine Nachbar*innen schwächen zu müssen, weil es eine gemeinsame Sicherheit ist. Und sie erlauben es, Mechanismen zur Durchsetzung von Regeln zu schaffen, weil alle Beteiligten unter dem Strich ein Interesse daran haben, dass die Regeln eingehalten werden, auch wenn sie zwischendurch von allen einmal verletzt werden. Von einem sehr instabilen Spiel hat Europa zu einem Spiel gefunden, das zwar immer noch in jeder Hinsicht imperfekt ist, aber das sich immer wieder selbst stabilisieren kann. Die EU hat das «collective action problem» im Wesentlichen gelöst und damit die Notwendigkeit von bewaffneten Konflikten überwunden.

Stefan Schlegel

In der Schweiz ist die Vorstellung weit verbreitet, sie sei immer schon ohne diese Spielregeln ausgekommen und brauche diese auch weiterhin nicht, denn sie sei ein Container, ein nach aussen hin abgeschlossenes – oder jedenfalls abschliessbares – System, das mit Neutralität, Föderalismus und direkter Demokratie für sich selber schon alle Regeln gefunden habe, die es brauche für Freiheit, Würde und Sicherheit. Es ist eine Vorstellung, welche die Verflochtenheit der Schweiz mit ihrem Kontinent und dessen Geschichte radikal ausblendet.

Stefan Schlegel

Ohne dass die Schweiz lernt, die europäische Einigung als ein Projekt für die Freiheit und die Würde des Individuums (auch in der Schweiz) zu verstehen, wird sie nicht nur ihre eigene Rolle in den Weltkriegen und im Kolonialismus nie verstehen können. Weil sie Freiheit und Würde nur noch als etwas kollektives auffassen kann, wird sie auch die so einfache und wichtige Idee verkümmern lassen, dass Macht über andere nur zum Schutz von Freiheit und Würde legitimerweise ausgeübt werden darf. 

Zurück in die Playlist

Die Befürworter*innen einer Sicherung unserer Beziehung mit der EU müssten nun aufwachen, war diese Woche in der Presse zu lesen. Sie müssten «auf Tutti gehen», wird gefordert. Dafür muss es gelingen, das Thema Europa im einfachen Akkord aus Freiheit und Würde zu spielen. Das Europa-Dossier braucht dafür dringend einen erneuerten Liberalismus. 

Noch dringender braucht der Liberalismus die europäische Einigung. Um zuerst wieder verstehen und dann wieder erklären zu können, wie individuelle Würde und Freiheit von gut funktionierenden, demokratisch legitimierten öffentlichen Institutionen abhängen, die «collective action problems» lösen können und deren Gestaltungsmacht jedenfalls annähernd so weit reicht, wie die wirtschaftliche Tätigkeit, die ihnen gegenüber steht. 

Ein solcher Liberalismus reagiert auch empfindlich auf die Freiheits-Attrappe der kollektiven Freiheit. Er versteht daher, dass Liberalismus nur möglich ist in konsequenter Abgrenzung zu Rechtspopulismus, denn im Rechtspopulismus gehen alle Menschen auf in der einen oder anderen Gruppe, entweder im «wahren Volk», oder in der «classe politique». Ein Indikator dafür, dass die Krise des Liberalismus langsam durchstanden ist, wäre eine viel bessere Pflege der Brandmauer gegen den Rechtspopulismus. Das ist eine Kernaufgabe der Operation Libero. 

Die Idee ist an sich simpel – der Akkord ist an sich einfach: Es geht um den Zusammenklang von individueller Freiheit und individueller Würde. Aber es ist eine Idee, die so schnell in Vergessenheit geraten kann wie ein einfacher, aber guter Song von früher. Dieser Song gehört zurück in die Playlist. Hierfür braucht es in der Schweiz eine Europapolitik, die in erster Linie liberale Politik ist und einen Liberalismus, der wieder europäisch ist. Hier kann die Operation Libero eine Rolle spielen, die sonst niemand kann.


Verfasser: Stefan Schlegel, Gründungsmitglied und zurückgetretenes Vorstandsmitglied

Stefan Schlegel
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