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«Neutralität nicht an längst widerlegten Mythen orientieren.»

Gastbeitrag des «Mythen-Zerstörers»

Seit einem halben Jahrhundert zerstört Geschichtsprofessor Werner Meyer bekannte Mythen der Schweizer Geschichte. Dieses Jahr hat er gemeinsam mit Angelo Garovi das Buch “Die Wahrheit hinter dem Mythos: die Entstehung der Schweiz” herausgegeben. In seinem Gastbeitrag schreibt er, wie bedenklich es ist, wenn historisch widerlegte Mythen als politische Richtlinien missbraucht werden – wie das bei der Neutralität der Fall ist.

Weltweit kennen Völker, Länder und Städte irgendwelche Mythen über ihren Ursprung und ihre Vergangenheit. Unterschiedlich ist aber ihr Umgang mit all diesen Erzählungen, die übrigens teilweise voneinander abgekupfert sind. Die Geschichte von der Gründung Roms mit Romulus, Remus und der Wölfin hält heute niemand mehr für ein historisches Ereignis, so wenig wie die Erzählung von Adam und Eva im Alten Testament.

Drachen, Tell und böse Vögte: Alles zerstörte Mythen

Auch die Schweiz ist voll von Mythen, wobei zu betonen ist, dass nicht jeder Irrtum als Mythos bewertet werden darf. Über die Herkunft und Glaubwürdigkeit der Schweizer Ursprungsmythen wird seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert geforscht und diskutiert. Dank der naturwissenschaftlichen Erkenntnis, dass es keine Drachen gibt, sind alle Sagen über heldenhafte Drachenkämpfer aus der historischen Wirklichkeit verbannt worden.

Mythos
Das Buch von Werner Meyer und Angelo Garovi

Ungleich zäher halten sich die im 15. Jahrhundert in die Welt gesetzten Erzählungen über die Anfänge der Eidgenossenschaft mit der aus der nordischen Überlieferung entlehnten Gestalt des Schützen Tell, mit den erfundenen Geschichten von den bösen Habsburger Vögten, vom Burgenbruch und vom Rütlischwur. Das alles ist mittlerweile wissenschaftlich widerlegt, ebenso wie der Opfertod Winkelrieds in der Schlacht von Sempach. 

Ewiggestrige stemmen sich gegen nüchternes Geschichtsbild

Die vielen Kriege und Schlachten, die von den Eidgenossen im späteren Mittelalter ausgefochten worden sind, sind zum Bild einer ewigen, erfolgreichen Verteidigung gegen äussere Feinde – quasi zu einem "Igelsyndrom" – verschmolzen worden. Aber an die Stelle all dieser schönen, politisch instrumentierbaren und pädagogisch verwertbaren Mythen ist ein nüchternes, fakten- und quellengestütztes Geschichtsbild getreten, dem sich ewiggestrige Gläubige noch immer – zwar ohne Argumente, aber mit Beschimpfungen und Drohungen – entgegenstemmen.

Neutralität mit Isolationismus verwechselt

Besonders bedenklich ist es, wenn die historisch widerlegten Mythen – zum Teil unter Berufung auf Zitate aus Schillers Telldrama – als politische Richtlinien missbraucht werden. Diese Feststellung gilt auch für den Umgang mit der Schweizer Neutralität. 

Unter den gläubigen Patrioten, die Neutralität mit Isolationismus verwechseln, geistert noch immer die um 1900 in die Welt gesetzte Vorstellung herum, die Schweizer Neutralität habe 1515 auf dem Schlachtfeld von Marignano ihren Anfang genommen. In Wirklichkeit hat sich die Neutralität, das "stille Sitzen", seit dem 16. Jahrhundert nach und nach, von Einzelfall zu Einzelfall, entwickelt und ist erst um 1700 zu einem aussenpolitischen Grundsatz geworden. Die Schwerfälligkeit, ja Entscheidungsunfähigkeit der eidgenössischen Glieder trug nicht unwesentlich dazu bei.

Neutralität hat sich immer gewandelt

Der Wandel des Begriffs Neutralität im Laufe der Zeit spielt eine zentrale Rolle, um die Herausbildung eines immerwährenden "Stillesitzens" (dieser Begriff beschrieb ursprünglich die Neutralität) zu analysieren. Zunächst bedeutete "Neutralität" nicht mehr, als dass man im Falle eines Krieges unter auswärtigen Mächten keine Partei mit obrigkeitlichen Truppen unterstützte. 

Fragen zum Durchzugsrecht (dass eine fremde Armee durch die Schweiz marschieren darf) oder zur Lieferung von Material waren lange Zeit ungeklärt. Und vor allem blieb der für die Schweiz so wichtige Solddienst vom Neutralitätsbegriff ausgeklammert. Soldverträge (sogenannte Kapitulationen), die fremden Mächten das Werberecht einräumten und stehende Schweizer Militärkontingente im Ausland ermöglichten, galten bis weit ins 19. Jahrhundert hinein nicht als neutralitätswidrig. 

Neutralität an die veränderten Verhältnisse in Europa und der Welt anpassen

Im Hinblick auf die globalen Entwicklungen der internationalen Bündnisse und Vereinbarungen sowie des internationalen Rechts ist es für die Schweiz höchste Zeit, den historisch belegten Wandel des Neutralitätsbegriffes zur Kenntnis zu nehmen. Wir sollten den Inhalt der künftigen Neutralitätspolitik realistisch überdenken und den veränderten Verhältnissen in der Europa- und Weltpolitik anpassen. Ein Mythos, der als historisches Faktum ausgegeben wird, ist entweder ein leerer Glaubenssatz oder eine dreiste Lüge.


Verfasser: Werner Meyer, Geschichtsprofessor und Autor

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